Interview: Deutsch-Chinesische Kooperation zu Funktionaler Sicherheit in Industrie 4.0
China
Mehr als 100 Expert*innen aus deutschen und chinesischen Normungsinstitutionen, Unternehmen und Verbänden arbeiten in der Unterarbeitsgruppe Industrie 4.0 der Deutsch-Chinesischen Kommission zur Zusammenarbeit in der Normung zusammen. Gemeinsam erarbeiten sie Vorschläge für die Normung von Industrie 4.0 - die Digitalisierung der industriellen Produktion. Wie gehen sie mit dem wichtigen Konzept der Funktionalen Sicherheit um? Wir fragen Xiong Wenze, Direktor der Abteilung Produktprüfung und -zertifizierung am Instrumentation Technology Economy Institute (ITEI) und Peter Sieber, Vizepräsident Normen & Standards und Region China bei der HIMA-Gruppe. Beide sind führende Spezialisten in der Technischen Expertengruppe Funktionale Sicherheit.
Herr Xiong, warum ist Funktionale Sicherheit besonders wichtig für die Unterarbeitsgruppe Industrie 4.0/Intelligente Fertigung der Deutsch-Chinesischen Kommission Normung?
Xiong Wenze: Funktionale Sicherheit gehört zu den wichtigsten Normen in der industriellen Sicherheit. Das Konzept ist auf der ganzen Welt anerkannt. Es wird in verschiedenen Bereichen wie der Prozessindustrie, der Automobilindustrie und bei Maschinenanwendungen eingesetzt. Funktionale Sicherheit hilft dabei, komplexe sicherheitsrelevante Systeme zu entwerfen und zu betreiben. Und sie kann quantitativ bewertet werden. Sowohl China als auch Deutschland haben Anforderungen an die Funktionale Sicherheit in ihren jeweiligen Normungs-Roadmaps bzw. I4.0/IM-Normensystemen festgelegt. Darüber hinaus betrifft Funktionale Sicherheit auch andere Themen der deutsch-chinesischen Zusammenarbeit, wie z.B. Künstliche Intelligenz. Deshalb können Forschungsergebnisse der Technischen Expertengruppe Funktionale Sicherheit in verschiedenen Bereichen angewendet werden.
Welchen Herausforderungen stehen Funktionale Sicherheit und Industrie 4.0/Intelligente Fertigung gegenüber?
Xiong Wenze: Das Konzept der Funktionalen Sicherheit entstand mit der internationalen Norm IEC 61508 zur Funktionalen Sicherheit. Diese wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom technischen Komitee des internationalen Normungsgremiums International Electrotechnical Commission IEC/TC65 veröffentlicht. Heute arbeiten wir in der Fertigung zunehmend mit Industrie 4.0-Systemen. Beim Aufbau einer intelligenten Fertigung ist Sicherheit essenziell. Sie muss von Anfang an berücksichtigt werden. In Industrie 4.0/Intelligente Fertigung sind E/E/PE (elektrisch/elektronisch/programmierbare Elektronik) Technologien weit verbreitet. Im Bereich Industrie 4.0 kann es jedoch schwieriger sein, Sicherheit zu gewährleisten, als in einer traditionellen Fabrik. Das liegt daran, dass viele neue Technologien, neue Produktionsmodi und neue Fabrikstrukturen in den Fertigungsprozess eingebracht werden. Es werden immer komplexere elektronische Hardware, Software und netzwerkbasierte Systeme eingesetzt. Da sich die Technologien in der Intelligenten Fertigung verändert haben, können wir nicht einfach eine Norm für Prozesse - z. B. IEC61508/IEC61511 - verwenden, da diese möglicherweise nicht für die Intelligente Fertigung geeignet ist. Deshalb haben wir ein Weißbuch veröffentlicht. Darin präsentieren wir potenzielle Trends und Lösungen, um funktionale Sicherheit in Industrie 4.0 zu erreichen und sie möglicherweise in Zukunft in internationale Standards umzusetzen.
Herr Sieber, was sind die interessantesten Erkenntnisse aus Ihrer Forschungsarbeit?
Peter Sieber: Wir möchten betonen, dass Funktionale Sicherheit und Industrie 4.0 sich nicht ausschließen, sondern aufeinander abgestimmt werden können. Unser Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0 (RAMI 4.0) ist eine dreidimensionale Landkarte, die einen strukturierten Ansatz zu Industrie 4.0 beschreibt. Die bestehenden Definitionen von RAMI 4.0 erlauben es, auch Aspekte der Funktionalen Sicherheit abzudecken. Mindestens drei wichtige Aspekte erfordern eine besondere Aufmerksamkeit: Erstens der Funktionserhalt integrierter Sicherheitsfunktionen, zweitens der Schutz dieser vor Sicherheitsbedrohungen und drittens die Wartbarkeit von wirksamen Sicherheitsmaßnahmen über den gesamten Lebenszyklus der Anlagen.
Was macht es so besonders, in der deutsch-chinesischen technischen Expertengruppe zu arbeiten?
Xiong Wenze: Die deutsch-chinesische Zusammenarbeit ist für beide Länder sehr wichtig. Es ist eine Ehre für mich, in dieser Expertengruppe mitarbeiten zu dürfen. Tatsächlich arbeiten viele Expertinnen und Experten in der deutsch-chinesischen Zusammenarbeit auch in den technischen Komitees der IEC/ISO. Auf Grundlage der Diskussionen in der Expertengruppe können wir uns gemeinsam in der internationalen Normenarbeitsgruppe einbringen. Das macht einen großen Unterschied für die Industrie- und Technologieentwicklungen beider Länder.
Warum ist Ihre Arbeit so wichtig?
Peter Sieber: Ein wichtiges Ziel ist es, ein angemessenes Qualitätsniveau für Anwendungen sicherzustellen. Sie sollen die Betriebsrisiken von Industrieanlagen auf ein akzeptables Maß reduzieren. Für Anwender ist es entscheidend, das Anlagenverhalten abschätzen zu können und für Lieferanten ist es wichtig, gemeinsam vereinbarte Regeln für Anforderungen zu haben. Letztlich profitiert die Gesellschaft davon, dass industrielle Risiken möglichst niedrig sind. Unabhängig davon, ob wir Produkte herstellen oder sie am Ende als Konsumenten nutzen. Wir brauchen Normen, die eine sichere und zuverlässige Produktion effektiv gewährleisten.
Herzlichen Dank für das Interview!
Xiong Wenze ist Direktor der Abteilung Produkttest und -zertifizierung am Instrumentation Technology Economy Institute (ITEI). Er ist als Experte in verschiedenen internationalen Standardisierungsgremien tätig, darunter IEC/TC65/WG20 und IEC/TC65/MT61508. Mit mehr als zehn Jahren Forschungserfahrung in den Bereichen Funktionale Sicherheit und Security hat er mehr als 20 Zertifizierungsprogramme umgesetzt, darunter SIS/F&GS/PLC, Transmitter, Relais. Herr Wenze ist derzeit federführend am Entwurf und der Veröffentlichung von mehr als zehn chinesischen nationalen Normen beteiligt.
Peter Sieber ist Vizepräsident der Abteilung Normen & Standards und Region China bei der HIMA-Gruppe und Geschäftsführer der HIMA (Shanghai) Industrial Automation Co. Ltd. Zuvor war er in verschiedenen Positionen bei Pepperl + Fuchs tätig. Seit 1988 arbeitet er in dem Gebiet der Funktionalen Sicherheit. In den letzten drei Jahrzehnten implementierte er über 200 größere Sicherheitslösungen in der chemischen, Öl- und Gas- sowie petrochemischen Industrie. Er ist als Experte in verschiedenen internationalen Normungsgremien tätig, u.a. IEC/TC65/WG20, IEC/TC65/WG22, IEC/CAB.